Gemischte Migration
Gemischte Migration1
ist ein verhältnismäßig neues Konzept. Der Begriff wird im letzten Jahrzehnt immer häufiger verwendet. Ziel des Gebrauchs ist es, das Wechselspiel verschiedener Gründe zum Ausdruck zu bringen, die Menschen unabhängig ihrer gesellschaftlichen Stellung zur Migration bewegen. Das Überschreiten nationaler Grenzen wird häufig als Zwangs- oder unfreiwillige bzw. freiwillige Migration beschrieben. In der Realität ist Migration jedoch ein Vorgang, der weitaus komplexer und vielschichtiger ist. Der Ansatz der gemischten Migration kann dabei helfen, den Schutzraum für Menschen zu vergrößern, sofern diese keinen Flüchtlingsstatus erlangen können oder ihr Land aus Gründen verlassen, die nicht in der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 oder im regionalen Flüchtlingsrecht festgehalten sind, sich aber dennoch gezwungen sehen, ihr Land aus verschiedenen, zusammenhängenden Faktoren (z.B. wirtschaftlicher, politischer, sozialer, religiöser oder ethnischer Natur) zu verlassen. Wie auch Geflüchtete sind diese Menschen jedoch bestimmten Gefahren ausgesetzt; sie haben ähnliche Bedürfnisse auf ihrer Reise und wählen oft die gleichen Routen. Es kann jedoch sein, dass diese Menschen nicht von dem gesetzlichen Schutz und der nötigen Unterstützung profitieren und ihre Rechte nicht geschützt werden, da der völkerrechtliche Rahmen aktuell nur zwei Konzepte vorsieht: Migrant/in und Geflüchtete/r.
Die Displacement Tracking Matrix (DTM) zu Wanderungsbewegungen und das Mixed Migration Centre (MMC), welches die Mixed Migration Monitoring Mechanism Initiative (4Mi) verwaltet, liefern zeitnahe und regelmäßig erhobene Daten zu gemischter Migration, zu den Profilen von Migranten sowie zu ihren Erfahrungen und Bedürfnissen. In herkömmlichen Migrationsdatenquellen werden Migranten mit ungeregeltem Aufenthaltsstatus kaum berücksichtigt. Im Rahmen politischen Handelns, das auch gemischte Migration berücksichtigt, werden Menschen unabhängig von ihrem gesetzlichen Status erfasst. So können auch Entwicklungen im Bereich der ungeregelten Migration verfolgt werden (IOM, 2020). In den vergangenen Jahren haben solche Instrumente der Datenerhebung dazu beigetragen, dass mehr Informationen zur Mobilität öffentlich verfügbar sind, insbesondere in Ländern, in denen es bis dato kein oder ein nur geringes Verständnis zu diesem Thema gab. Zum Beispiel haben Nutzer im Bereich Displacement auf der DTM-Website der IOM Zugang zu Kartenmaterial rund um das Thema Vertreibung; hier erhalten sie Zahlen zur gemischten Migration weltweit. Zudem haben Nutzer im Bereich 4Mi interactive auf der MMC-Website Zugang zu verschiedenen Indikatoren, welche die Erfahrungen im Rahmen der Migration anhand interaktiver Darstellungen veranschaulichen.
Aktuell gibt es nur wenig quantitatives Datenmaterial zur gemischten Migration, da diese Bewegungen oft versteckt, grenzüberschreitend und mobil erfolgen. Darum ist es besonders komplex, genaue Daten zu erheben. Auch unterschiedliche Definitionen des Begriffs „gemischte Migration“ erschweren die Erhebung sowie die Vergleichbarkeit von Daten.
- 1Der Begriff „gemischte Migration“ wird anstelle des Begriffs „gemischte Wanderungen“ als Titel dieser Themenseite verwendet. Es handelt sich um einen allgemein anerkannten, umfassenderen Begriff. Unterschiede in der Bedeutung dieser beiden Begriffe werden im Abschnitt „Definitionen“ näher erläutert.
Source: 4Mi Graphic: Migration Drivers and Decisions, in Mixed Migration Review 2019, Mixed Migration Centre, Geneva (2019).
Definition
Gemischte Migration (Englisch: mixed migration) bezeichnet „grenzüberschreitende Wanderungen von Menschen, darunter Geflüchtete, die vor Verfolgung und Konflikt fliehen, sowie Opfer von Menschenhandel und Personen, die auf der Suche nach einem besseren Leben und neuen Möglichkeiten sind. Im Zuge gemischter Migration gibt es verschiedene Beweggründe für Menschen; diese können einen unterschiedlichen rechtlichen Status suchen oder sich mit verschiedenen Gefahrensituationen konfrontiert sehen. Obwohl ihnen laut internationalen Menschenrechtsnormen Schutz zusteht, werden ihre Menschenrechte bei der Migration vielfach verletzt. Zudem sind Geflüchtete und Migrantinnen und Migranten oft auf ähnlichen Routen unterwegs und nutzen ähnliche Mittel, um die Strecke zurückzulegen. Ihre Reise ist häufig irregulär und wird gänzlich oder teilweise durch Schleuser unterstützt (MMC, 2019). Organisationen verwenden unterschiedliche Begriffe für das Konzept der gemischten Migration. Die IOM verwendet den Begriff „gemischte Wanderungen“ (Englisch: mixed movements) (in bestimmten Fällen aber auch die Begriffe „gemischte Migration“ und „gemischte Migrationsströme“ [Englisch: mixed flows]), um zu verdeutlichen, dass Menschen, die sich auf der gleichen Migrationsroute befinden und die gleichen Verkehrsmittel nutzen, nicht zwangsläufig den gleichen Migrationsstatus haben. Dies zeigt auch, dass gemischte Wanderungen unterschiedlich motiviert sind (IOM, 2019). Das UNHCR verwendet hingegen den Begriff „gemischte Wanderung“ (Englisch: mixed movement) und unterstreicht damit, dass der Anspruch auf Schutz vom Migrationsstatus abhängt.
Aktuell gibt es eine Debatte im Bereich Migration, die sich mit der Abgrenzung der Begriffe „Flüchtling“ und „Migrant“ und insbesondere der Frage befasst, ob Geflüchtete zu der Gruppe der Migrantinnen und Migranten zählen oder ob es sich bei Migranten und Geflüchteten um zwei separate Kategorien handelt. Einerseits gibt es berechtigten Grund zur Sorge, dass sich der Schutz für Geflüchtete verkleinert, wenn man sie als der Gruppe der Migrantinnnen und Migranten (aber mit zusätzlichen Rechten im Rahmen der Genfer Flüchtlingskonvention) untergeordnet betrachtet. Das ist insbesondere auf eine negative Wahrnehmung von Migrantinnen und mIgranten in den Medien und der breiten Öffentlichkeit zurückzuführen. Andererseits ist es aus Sicht der Grundrechte und der humanitären Bedürfnisse besser, politische Entscheidungen und humanitäre Hilfsprogramme auf alle Menschen auszurichten, die an gemischten Migrationsströmen beteiligt sind, anstatt Geflüchtete und Migrantinnen und Migranten als zwei separate Gruppen zu betrachten (gleichwohl muss bei einem solchen Ansatz anerkannt werden, dass Flüchtlinge Anspruch auf besonderen Schutz haben). Wird auf diese Abgrenzung bestanden, so kann es unter Umständen sogar dazu kommen, dass die Rechte von Migrantinnen und Migranten beeinträchtigt werden, da ihr Schutz gegenüber jenem von Geflüchteten als zweitrangig erachtet wird. Bei der statistischen Definition des Begriffs „Migrant/in“ werden zudem Geflüchtete berücksichtigt, da auch diese ihr Aufenthaltsland wechseln.
Im Gegensatz zu einer Untersuchung der einzelnen Migrationsströme ist gemischte Migration eine wertvolle Perspektive, um die aktuellen Bewegungen menschlicher Mobilität zu verstehen. Dafür gibt es drei Gründe:
- Unabhängig von der Reisedauer bezeichnet gemischte Migration den Prozess der Bewegung bzw. den zwischenzeitlichen Aufenthalt vor der Weiterreise (Transit).2
Der Begriff trifft nicht auf Menschen zu, bevor sie ihr Herkunftsland verlassen; ebenso wenig trifft er auf Menschen zu, die im Herkunftsland angekommen sind und sich dort niedergelassen haben. - Unabhängig von ihrem Status bezeichnet gemischte Migration Menschen im Rahmen von Wanderungsbewegungen, die ähnlichen Risiken und den gleichen Gefahrenquellen und/oder Urhebern von Straftaten ausgesetzt sind.
- Mit diesem Konzept wird anerkannt, dass es sowohl für Geflüchtete als auch für Migrantinnen und Migranten unterschiedliche Gründe für Wanderungsbewegungen gibt. Oft hat ihre Entscheidung verschiedene, voneinander abhängige und sich gegenseitig beeinflussende Dimensionen. Menschen möchten oder müssen ihr Land unter anderem aus folgenden Gründen verlassen: Verfolgung, Gewalt und Konflikt, Armut, eingeschränkte Grundrechte, fehlender Zugang zur Grundversorgung, geringe Beschäftigungsmöglichkeiten, mangelnde Geschlechtergerechtigkeit, Folgen von Umweltzerstörung und Klimawandel, Trennung von der Familie oder persönliche Ziele.
Wenn jedoch der Ansatz der gemischten Migration gewählt wird, so müssen jeweils auch die zusätzlichen Rechte von Asylsuchenden und Geflüchteten genannt und vollständig anerkannt werden, die ihnen unter dem Schutzmandat der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 und dem Protokoll über die Rechtsstellung der Flüchtlinge von 1967 zustehen (nähere Informationen hierzu auf der Themenseite Zwangsmigration und Vertreibung). Dennoch ist es wichtig anzuerkennen, dass der Schutz aller Menschen im Rahmen gemischter Migrationsströme – unabhängig von ihrem Migrationsstatus – gefährdet ist; sie sind zusätzlichen Gefahren ausgesetzt und verfügen über weniger Rechte und eingeschränkte Selbstbestimmung. Nur wenige Zwangsvertriebene verfügen über gar keine Selbstbestimmung auf ihrem Weg, gleichzeitig gibt es Menschen, die eine „freiwillige“ Reise antreten, aber bei der Migration nicht immer über das gleiche Maß an Entscheidungsgewalt verfügen. Die Menschenrechte sämtlicher Personen in gemischten Migrationsströmen sollten die Richtschnur aller Analysen, Programme und der politischen Planung sein.
Weltweite Entwicklungen
Mobilität während der COVID-19-Pandemie
Gesundheitspolitische Maßnahmen zur Eindämmung der COVID-19-Pandemie – darunter unter anderem Ausgangssperren, internationale Grenzschließungen und Begrenzungen innerstaatlicher Mobilität – wirken sich entscheidend auf menschliche Mobilität und gemischte Migration aus. Nach dem Ausbruch der Pandemie haben verschiedene Forschungseinrichtungen, die sich schwerpunktmäßig mit gemischter Migration befassen, die Mechanismen im Zuge ihrer Datenerhebung angepasst, um neue Phänomene besser aufzeigen zu können. Im Rahmen des DTM-Systems der IOM wurden die Schließungen von Land-, See- und Luftgrenzen beobachtet, um die Folgen für gemischte Wanderungsbewegungen auf Makroebene nachvollziehen zu können. Das Mixed Migration Center (MMC) hingegen hat weltweite Entwicklungen in dem Bereich auf Mikroebene verfolgt, indem es die Erfahrungen von Menschen auf wichtigen Routen gemischter Migration dokumentiert hat.
Die venezolanische Diaspora
Laut den Daten nationaler Einwanderungsbehörden und anderer Quellen haben – Stand Februar 2021 – fast 5,48 Millionen Venezolanerinnen und Venezolaner in den letzten Jahren ihr Herkunftsland infolge politischer und sozialer Unruhen und der Wirtschaftskrise verlassen (R4V, 2020). Die Vereinten Nationen haben dies als die größte Krise externer Vertreibung in der Geschichte Lateinamerikas und des Karibikraums beschrieben (R4V, 2018). Der Großteil (84 Prozent) der Menschen, die das Land verließen, begaben sich in Länder in Lateinamerika und im Karibikraum. Zielländer waren in erster Linie Kolumbien und Peru, die 32 Prozent bzw. 19 Prozent der Menschen aufnahmen, gefolgt von Ecuador und Chile (R4V, 2020b). Die meisten Venezolanerinnen und Venzolaner verlassen ihr Land aus mehreren Gründen. Dazu gehören mangelnde Perspektiven auf dem Arbeitsmarkt, eingeschränkte Grundrechte und fehlender Zugang zur Grundversorgung, Unsicherheiten und in Einzelfällen politische Verfolgung. Menschen aus der Bolivarischen Republik Venezuela mit anerkanntem Flüchtlingsstatus verlassen das Land auf den gleichen Wegen und mit den gleichen Mitteln wie Menschen, die das Land nicht aufgrund von Verfolgung verlassen. Die lang anhaltende Krise und die steigende Zahl der venezolanischen Flüchtlinge und Migranten haben dazu geführt, dass verschiedene Länder eine immer restriktivere Migrationspolitik verfolgen. Da die legale Migration zunehmend erschwert wird, begeben sich immer mehr Venezolanerinnen und Venezolaner auf gefährlichere, irreguläre Wege (R4V, 2019).
Bewegungen entlang der zentralen Mittelmeerroute
Im Jahr 2015 geriet gemischte Migration nach Europa zunehmend ins öffentliche Interesse. Zu diesem Zeitpunkt erreichten immer mehr Geflüchtete und Migrantinnen und Migranten unter anderem Griechenland, Italien und Spanien, nachdem sie lange Entfernungen irregulär zurückgelegt hatten. In den letzten Jahren konnten immer mehr Daten erhoben werden, um die komplexen Migrationsbewegungen in West- und Nordafrika über das Mittelmeer zu verstehen. So konnte das Verständnis für Migrationsbewegungen innerhalb und zwischen diesen Regionen vertieft werden (IOM GMDAC, 2020). Im Zuge gemischter Migration entlang der zentralen Mittelmeerroute verlassen Geflüchtete aufgrund von Konflikt und Verfolgung ihre Herkunftsländer. Zudem hoffen Migranten, dass sich ihnen in Nordafrika und Europa bessere soziale und wirtschaftliche Perspektiven eröffnen. Darüber hinaus begeben sich Menschen auf die Mittelmeerroute, deren Zielland ursprünglich Libyen war, die aufgrund des Konflikts und der schwierigen Bedingungen das Land aber wieder verließen. Trotz der Tatsache, dass die Zahl der in Europa ankommenden Menschen seit 2016 deutlich zurückgegangen ist, begeben sich Geflüchtete und Migrantinnen und Migranten weiterhin auf die Reise nach Europa, wo sie auf Schutz und bessere Lebensbedingungen hoffen (MMC, 2019). Im Jahr 2020 war Tunisien der Hauptauslaufhafen für Migrantinnen und Migranten auf dem Weg nach Italien mit 14 685 Ankünften, gefolgt von Libyen mit 13 012 Ankünften (IOM, 2020). Libyen beheimatet aktuellmehr als 547.000 Menschen und obwohl das öffentliche Interesse in erster Linie auf der Transitmigration aus Libyen nach Europa entlang der Mittelmeerroute liegt, beabsichtigen die meisten Migranten, in Libyen zu bleiben, da der dortige Arbeitsmarkt trotz der aktuellen Wirtschaftskrise, Konflikt, Unsicherheiten und der Strafverfolgung von irregulär Einreisenden weiterhin Ziel regulärer und irregulärer Migranten ist. Die schwierigen Rahmenbedingungen haben dazu geführt, dass manche Geflüchtete und Migranten unfreiwillig im Land verbleiben und/oder Unterstützung benötigen, um das Land wieder zu verlassen.
Bewegungen im Jemen
Geflüchtete und Migrantinnen und Migranten auf der Ostafrika-Route begeben sich vom Horn von Afrika in den Jemen oder in die Golfstaaten. Menschen auf dieser gemischten Migrationsroute stammen hauptsächlich aus Äthiopien und Somalia. Hohe Arbeitslosigkeit und politische Unsicherheit sind wichtige Beweggründe für Menschen aus diesen Herkunftsländern, die in die Golfstaaten reisen. Sie hoffen auf Sicherheit und Beschäftigungsmöglichkeiten im informellen Sektor. Für die meisten vom Horn von Afrika kommenden Menschen ist der Jemen ein Transitland auf ihrem Weg nach Saudiarabien und in die Golfstaaten. Allein in Saudiarabien gab es 2017 geschätzte 500.000 Menschen mit äthiopischer Staatsbürgerschaft (HRW, 2017). Der fehlende Zugang zur Grundversorgung, weitverbreitete Gewalt und Missbrauch, Menschenhandel und andere Risiken, die den Schutz von Flüchtlingen und Migranten gefährden, prägen das Leben dieser Menschen, deren Ziel oder Trasitziel der Jemen ist (Botti and Phillips, 2019). Aufgrund des anhaltenden humanitären Notstands im Jemen gibt es entlang dieser Route Ströme sowohl ein- als auch ausreisender Geflüchtete und Migrantinnen und Migranten. Neben den Bewegungen von Menschen aus Äthiopien und Somalia in Richtung Jemen und der Golfstaaten suchen nun auch Menschen aus dem Jemen in Ostafrika Asyl; hinzukommen Äthiopier und Somalier, die in ihre Herkunftsländer zurückkehren (VOA, 2019). Bis Ende Dezember 2019 waren 138.213 Menschen im Jemen angekommen (IOM, 2019a).
Seit dem Ausbruch der COVID-19-Pandemie sind Bewegungen entlang der Migrationskorridore in der Region am Horn von Afrika deutlich zurückgegangen. Zwischen Januar und Juni 2020 ging die Migration entlang der Ostroute, der zahlenmäßig wichtigsten Migrationsroute, um 49 Prozent zurück. Nur 31.900 Menschen kamen neu aus der Region am Horn von Afrika an der Küste Jemens an, was einem Rückgang von 62 Prozent im Vergleich zur ersten Jahreshälfte 2019 entspricht (IOM, 2020). Aufgrund der eingeschränkten Bewegungsfreiheit und Grenzschließungen waren Migranten oft nicht in der Lage, ihre Reise fortzusetzen bzw. in ihre Herkunftsländer zurückzukehren. Ende Oktober 2020 waren geschätzte 14.500 Migranten im Jemen, 1.158 Migranten in Dschibuti und zwischen 400 und 500 Migranten in Somalia gestrandet (IOM, 2020b).
Datenquellen
In herkömmlichen Migrationsdatenquellen werden Migrantinnen und Migranten mit ungeregeltem Aufenthaltsstatus kaum berücksichtigt. Im Rahmen politischen Handelns, das auch gemischte Migration berücksichtigt, werden Menschen unabhängig von ihrem gesetzlichen Status erfasst. So können auch Entwicklungen im Bereich der ungeregelten Migration verfolgt werden (IOM, 2020). Aktuell gibt es nur wenige Datenquellen zum besseren Verständnis und zur Auswertung von gemischter Migration, da diese Bewegungen oft versteckt, grenzüberschreitend und mobil erfolgen. Darum ist es besonders komplex, genaue Daten zu erheben. Wichtige Datenquellen zur gemischten Migration:
Im Rahmen der Displacement Tracking Matrix (DTM) versucht die IOM, die Zahl und die Zusammensetzung gemischter Migrationsbewegungen sowohl bei Ankunft als auch während der Reise zu erfassen. Das DTM-System beobachtet und verfolgt Vertreibung und Bevölkerungsmobilität. Es bietet Entscheidungsträgern und Hilfsorganisationen wichtige Informationen in Krisensituation und trägt zu einem besseren Verständnis von Wanderungsbewegungen bei. Das System wurde erstmals im Jahr 2004 entwickelt, um die Binnenvertreibung im Irak zu verfolgen. Seitdem wurde es in 71 Ländern und in verschiedenen Zusammenhängen eingesetzt, darunter Konflikt, Naturkatastrophen, komplexe Notstände und Krisensituationen. So konnten Daten zu 27,8 Millionen Binnenvertriebenen, 20,1 Millionen Rückkehrern und 5,1 Millionen Migranten erhoben werden (Stand: Oktober 2020). Zu den erfassten Indikatoren gehören Standort, Lebensbedingungen, Bedürfnisse, Gefahren und Risiken sowie Migrationsströme; es werden Daten zu Gruppen, Haushalten und/oder Einzelpersonen zusammengetragen.
DTM-Projekte:
- Migration.iom.int ist die Online-Plattform der IOM, deren Ziel es ist, den Zugang zu den im Rahmen des DTM-Systems erstellten Inhalten zu Migrationsströmen auszuweiten und Wanderungsbewegungen zu veranschaulichen.
- Die IOM versucht auch die Auswirkungen der COVID-19-Pandemie auf die menschliche Mobilität nachzuvollziehen. Hierzu hat sie verschiedene Initiativen mit dem Ziel ins Leben gerufen, internationale Reisebeschränkungen, Mobilität, Grenzübertritte, Migrationsströme sowie die Auswirkungen der aktuellen Lage auf Migranten und Binnenvertriebene zu verstehen.
- Ziel des Netzwerks Regional Data Hub (RDH) for East and Horn of Africa ist es, bestehende Datenlücken zu schließen und die Datengrundlage zur Migration in der Region zu festigen. Dies soll durch eine Kombination verschiedener IOM-Methoden zur Datenerhebung, Forschungsinitiativen und eine beständige, enge Zusammenarbeit mit den nationalen Statistikämtern, wichtigen Ministerien und den regionalen Wirtschaftsgemeinschaften erreicht werden.
Das Mixed Migration Centre hat die Mixed Migration Monitoring Mechanism Initiative (4Mi) gestartet und möchte somit die Erfahrungen von Menschen entlang gemischter Migrationsrouten zusammentragen. Seitdem die Initiative 2014 gestartet wurde, konnten mehr als 100 Beobachter in mehr als 20 Ländern für das 4Mi-Netzwerk gewonnen werden; in Europa (Italien und Griechenland) sowie in Lateinamerika (Kolumbien und Peru) wurden – Stand Ende 2019 – neue Programme zur Datenerhebung auf den Weg gebracht. Regional agierende Teams in West-, Nord- und Ostafrika sowie im Jemen, in Europa, Lateinamerika und Asien erheben Daten zur gemischten Migration und werten diese aus. Der 4Mi-Fragebogen besteht aus einer Reihe strukturierter und offener Fragen. Die Antworten werden von Beobachtern zusammengetragen, die oft selbst Flüchtlinge oder Migranten sind. Sie befragen Menschen an Knoten- bzw. wichtigen Punkten, an denen gemischte Migration erfolgt: urbane- und Grenzräume sowie Transitrouten, die von besonders vielen Menschen genutzt werden.
Beobachter werden auf Grundlage ihrer Ortskundigkeit und ihrer Kontakte zu Flüchtlingen und Migranten ausgewählt. Das 4Mi-Netzwerk achtet bei der Auswahl von Beobachtern auf vielfältige Profile (in puncto Geschlecht, ethnische Herkunft, Sprachkenntnisse, wirtschaftliche und gesellschaftliche Stellung), um eine möglichst repräsentative Stichprobe an Flüchtlingen und Migranten befragen zu können. Meist wenden Beobachter eine Methodenkombination (bewusste Auswahlverfahren und Schneeball-Stichprobe) bei der Auswahl von Befragten an. Vorrangiges Ziel dieses Vorgehens ist es, Menschen im Rahmen von Migrationsbewegungen zu erreichen. Nicht im Vordergrund stehen Menschen, die sich bereits langfristig niedergelassen haben. Daher befragen Beobachter nur Geflüchtete und Migrantinnen und Migranten, die sich seit weniger als einem Jahr bzw. zwei Jahren (standortabhängig) im Land aufhalten. In einigen Ländern – insbesondere dort, wo Menschen ihre Mobilität für längere Zeit eingeschränkt sehen – wurde dieser Zeitraum verlängert. Beobachter werden entsprechend geschult, um auf eine ausgewogene Zahl der Teilnehmer und Teilnehmerinnen sowie auf möglichst verschiedene Kontakte und Herkunftsländer zu achten. Bei der Stichprobe wird nicht zwischen Migrantinnen und Migranten, Asylsuchenden und Geflüchteten unterschieden, um die Vielfalt gemischter Wanderungsbewegungen abzubilden.
Der Mixed Migration Hub (MHub) ist eine Initiative in Nordafrika, die Routen, Ströme und Entwicklungen bei gemischten Wanderungsbewegungen in der Region aufzeigt. MHub nimmt zwei wichtige Aufgaben wahr: Einerseits unterstützt die Initiative Regierungen und andere Organisationen bei der Forschung zu Geflüchteten und Migrantinnen und Migranten. Andererseits erforscht MHub den Schutz der Menschenrechte und die diesbezüglichen Probleme, mit denen sich Menschen im Rahmen der Migration in Nordafrika konfrontiert sehen. Diese Informationen dienen politischen Entscheidungsträgern, Geldgebern, der breiten Öffentlichkeit und Forschenden und sollen der Interessenvertretung, Entscheidungsfindung und Entwicklung von Hilfsprogrammen zugutekommen. MHub betreibt eigene Forschungsarbeiten oder arbeitet mit externen Forschenden zusammen, die beauftragt werden, an Studien in mehreren Ländern zu arbeiten. Zu diesem Zweck hat MHub Forschende in verschiedene Länder entlang der Migrationsrouten entsandt, um Menschen vor Ort zu befragen, die diese Routen nutzen. Um darüber hinaus die Verbreitung der gewonnenen Erkenntnisse voranzutreiben, beteiligt sich MHub an Projekten zur Wissenschaftskommunikation und führt Forschungsveranstaltungen mit Partnern und Interessenträgern durch.
MHub setzt bei seiner Zusammenarbeit mit Interessenträgern auf interdisziplinäre Ansätze und verfügt über einen Sitz im Büro der North Africa Mixed Migration Task Force (NAMMTF). Die Initiative arbeitet im Auftrag der NAMMTF, an der verschiedene internationale Organisationen beteiligt sind, darunter die Dänische Flüchtlingshilfe (DRC), die IOM, das Amt des Hohen Kommissars für Menschenrechte (OHCRHR), das Mixed Migration Center (MMC), Save the Children, das UNHCR, UNICEF und das Büro der Vereinten Nationen für Drogen- und Verbrechensbekämpfung (UNODC). Ziel von MHub ist es, einen auf den Menschenrechten beruhenden migrationspolitischen Ansatz zu fördern und den Schutz von Menschen im Rahmen gemischter und komplexer Migrationsströme in und durch Nordafrika sicherzustellen.
Beispiele weiterer Stellen, die Daten zur gemischten Migration erheben:
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Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (UNICEF) – UNICEF erfasst Daten zu begleiteten und unbegleiteten Kindern, die unabhängig der Beweggründe im Zuge gemischter Migration ihren Aufenthaltsort wechseln.
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Counter-Trafficking Data Collaborative der IOM (CTDC) - Das CTDC ist die weltweit größte Datenbank zum Menschenhandel und bietet standardisierte Daten von Organisationen, die gegen den Menschenhandel in aller Welt vorgehen.
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Büro der Vereinten Nationen für Drogen- und Verbrechensbekämpfung (UNODC) - UNODC erhebt Daten und beobachtet auf globaler, kontinentaler und nationaler Ebene Bewegungen und Ströme im Rahmen des Menschenhandels und der Schleuserkriminalität.
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Internal Displacement Monitoring Centre (IDMC) - Das IDMC beobachtet die weltweite Vertreibung aufgrund von Konflikt, Gewalt, Naturkatastrophen und wirtschaftlicher Entwicklungen. Auch wenn das Konzept der gemischten Migration meistens keine Binnenvertreibung oder Binnenvertriebene umfasst, so gilt es auch derartige Bewegungen zu verfolgen, da Binnenvertriebene im Rahmen gemischter Migration zu einem späteren Zeitpunkt nationale Grenzen überqueren können.
Methodische Stärken und Schwächen
Bei der Auswertung gemischter Migrationsströme wird zu stark auf qualitatives Datenmaterial gesetzt, da nicht ausreichend quantitative Daten zur Verfügung stehen. Das DTM-System der IOM versucht die Formen und das Volumen gemischter Migration zu verstehen. Die im Zuge von 4Mi durch das MMC erhobenen Daten befassen sich mit den Erfahrungen von Menschen auf gemischten Migrationsrouten sowie dem eigentlichen Prozess der gemischten Migration (u.a. Beweggründe, persönliche Ziele, Erfahrungen mit Schleusern). Beide Datenquellen bilden eine erste Grundlage, um die gemischten Migrationsrouten und die Profile der Menschen, die diese Routen nutzen, zu verstehen. Die fortlaufend und vor Ort erhobenen Daten von 4Mi zeichnen ein Gesamtbild der gemischten Migration, insbesondere im Vergleich mit den Daten des DTM-Systems. Auch sich abzeichnende Entwicklungen lassen sich dadurch aufzeigen. Das Zusammentragen von Informationen zu gemischten Migrationsrouten und die Triangulation mit Daten aus anderen Quellen ermöglicht es der Initiative 4Mi des MMC und dem DTM-System der IOM, vergleichende Analysen zwischen verschiedenen Routen und Regionen vorzunehmen.
Bei der Erhebung von Daten zur gemischten Migration sind verschiedene methodische Schwächen zu berücksichtigen. Migrationsgruppen sind heterogen und bisweilen schwer zu erreichen. Daher sind zufällige Stichproben und repräsentative Formen der Datenerhebung nicht möglich. Projekte wie 4Mi müssen daher oft auf bewusste Auswahlverfahren und Schneeball-Stichproben setzen. Dadurch verliert das Datenmaterial zur gemischten Migration an Aussagekraft. Zum Beispiel kann es nicht genutzt werden, um den zahlenmäßigen Umfang und die Zusammensetzung des gesamten Bestands an Migrantinnen und Migranten abzuleiten. Daher hat 4Mi verschiedene Maßnahmen ergriffen, um die Stichprobe auszuweiten. So wurden die Zahl der durchgeführten Befragungen (mehr als 10.000 im Jahr) erhöht, eine bewusste Auswahl der Beobachter und der Standorte zur Teilnehmergewinnung getroffen sowie der Fragebogen weiterentwickelt.
Weiterführende Literatur
Fargues, P.
2020 Focus on operational data: the International Organization for Migration’s Displacement Tracking Matrix, and the Mixed Migration Centre’s Mixed Migration Monitoring Mechanism initiative. Migration in West and North Africa and across the Mediterranean, Edited Volume, Chapter 1, Pages 6-20. Geneva: International Organization for Migration.
IOM Displacement Tracking Matrix (DTM)
2017 Methodological Framework used in Displacement Tracking Matrix Operations for Quantifying Displacement and Mobility. Geneva: Global DTM Team.
2018 DTM & Partners Toolkit. Geneva: Global DTM Team.
Horwood, C., B. Frouws, and R. Forin. (Eds.).
2019 Mixed Migration Review 2019. Highlights. Interviews. Essays. Data. Geneva: Mixed Migration Centre.
Van Hear, N.
2009 Managing mobility for human development: The growing salience of mixed migration. UNDP Human Development Research Paper. June.
Long, K.
2013 When refugees stopped being migrants: Movement, labour and humanitarian protection, Migration Studies, Volume 1, Issue 1, Pages 4–26. March.
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2017 Refugee advocacy and the meaning of ‘migrants’, PRIO Policy Brief. Oslo, February.
Sharpe, M.
2018 Mixed Up: International Law and the Meaning(s) of 'Mixed Migration'. 37 Refugee Survey Quarterly 116. March.
- 2 Der Begriff geht über herkömmliche Definitionen hinaus, wonach Migranten nach der Art oder Dauer der Bewegung kategorisiert werden.